Sie lesen die Rezension eines neuen Bestsellers, und eine dem Artikel beiliegende Leseprobe verspricht Spannendes. Sie kaufen das Buch aufgrund der positiven Besprechung. Im Nachhinein sind Sie zufrieden und froh, der ehrlichen Meinung eines Rezensenten gefolgt zu sein; das Buch war toll und Sie würden jetzt gerne selbst eine positive Bewertung hinterlassen. Auf der Homepage des Verlags (oder des Online-Händlers) finden Sie die Möglichkeit dazu und schreiben Ihre eigene Meinung unter den Titel.

Opinion-Spam: 20% sind nicht genug!


Sie sind nun Teil einer immer stärker wachsenden Gemeinschaft von Entscheidungsmachern, die längst ein Millionenpublikum erreicht. Mithilfe Ihrer ehrlichen Bewertung können sich interessierte Käufer orientieren und eine Kaufentscheidung treffen. Ein Idealfall mit Nutzen für die Allgemeinheit. Aber wie sieht es aus, wenn diese Online-Bewertungen falsch sind? Wenn sie leer und ohne Bezug auf das Produkt erstellt wurden?

Rund 80% der Verbraucher verlassen sich heutzutage auf positive Online-Bewertungen in Portalen, wie Experten schätzen. Doch 20 bis 30% der Käufer-Urteile sollen gefälscht sein. Dieser „Opinion-Spam“ lässt sich in besonderer Häufung auf Bewertungsportalen für Urlaube, Hotels und Restaurants finden. Hotelportale sollen sogar bis zu ein Drittel falscher Kundenbewertungen aufweisen. Es ist inzwischen bekannt, dass sich Hotels für positive Online-Bewertungen bei ihren Gästen mit Aufmerksamkeiten „bedanken“. Und dass manche Firmen, darunter viele App-Anbieter, regelrechte ‚Click-Farmen‘ in Asien beauftragen, um mit Hunderten bezahlter Clicks (auch das unkommentierte Abgeben einer 4- oder 5-Sterne-Bewertung zählt zum „Opinion-Spamming“) das Ranking eines Produkts auf die Besten- oder Bestsellerliste zu hieven.

Agenturen werben damit, für ihre Auftraggeber „echte Kommentare“ mit hoher Bewertung auf den einschlägigen Portalen abzusetzen. Für eine anständige Summe Geld, versteht sich. Manch ein Start-Up versucht auf diesem Wege, die schwierige Hürde im ersten Jahr zu überspringen und mit Hilfe möglichst hoher Produkt-Rankings schon während der Markteinführungsphase eine große Käuferschar zu gewinnen. Gerade bei kommerziellen Gütern bringen Online-Bewertungen von Kunden eine größere Aufmerksamkeit letztendlich höhere Verkaufszahlen mit sich. Schließlich investiert eine große Mehrheit der Kunden oft weder Aufwand noch Zeit, um ein Produkt analog zu prüfen und sich qualifizierten Rat außerhalb der Community einzuholen.

Online-Bewertungen: Wer testet die Tester?


Universitäten wie die Cornell University in New York entwickeln Programme, deren Algorithmen die Bewertungsportale auf offensichtliche Fake-Kommentare durchforsten. Hierbei werden die Online-Bewertungen durch Textanalysen nach zu euphorischen und sich immer wiederholenden Schlagwörtern durchsucht. Echte Bewertungen seien weniger emotional und eher konkreter, meinen die Informatiker, die solche Programme in Zusammenarbeit mit Linguisten und Psychologen entwickeln.

Da derart softwarebasierte Lügendetektoren bei großen Feldversuchen allerdings auch eine Reihe von nachweisbar echten Kommentaren ausfilterten und bislang keine 100%igen vertrauensvollen Ergebnisse erreicht werden konnten, verzichten viele Portalbetreiber auf deren (alleinigen) Einsatz.

Somit wird uns das Problem des schönen „Hochbürstens“ von Produkten, in IT-Kreisen entsprechend „Brushing“ genannt, wohl noch eine ganze Weile beschäftigen. Ebenso wie das mühevolle, weil meist händische Aufspüren und Beseitigen des Meinungsmülls.

Ihr Einsatz ist gefragt!


Wie kann man sich nun als Kunde gegen solche Bauernfängerei im Internet schützen? Bei vielen Angeboten ist ein Prüfen des Produkts vor Ort und vorab schlicht nicht möglich. Hier gilt tatsächlich, sich auf verschiedenen Portalen zu informieren, nach auffällig gleichen Kommentaren Ausschau halten und allzu überschwängliche Online-Bewertungen mit einer großen Prise Salz zu nehmen.

Auch bei TÜV-Seiten oder Institutionen wie der Stiftung Warentest kann man sich über viele Produkte ein neutraleres Bild machen. Und bei Reisen und Hotels liefern Freunde und Bekannte eine ehrliche Meinung.

Im Bereich des Buchhandels wird es schwierig bleiben, eine Neuerscheinung mit leeren Worthülsen und flachen Schlagwörtern langfristig für eine große Runde von Käufern attraktiv zu machen. Hier gelten zum Glück noch die objektive Meinung der Rezensenten und die subjektive der Käufer. Doch es lauern andere Gefahren. Die bezahlten Autoren positiver Buchrezensionen schreiben einfach von vorhandenen, guten Rezensionen ab, formulieren kräftig um und befruchten sich somit auf längere Sicht gegenseitig.

Trotzdem steht hinter jedem Hype des Marketings und jedem Schlagen der Werbetrommel immer noch ein Buch, über das der eigene Geschmack entscheidet. Eine Buchhandlung und etwas Zeit ist alles, was Sie brauchen, um die richtige Entscheidung zu treffen.

Unterm Strich finden sich die Kunden also in einer ganz ähnlichen Situation wie die Portalbetreiber wieder: Für beide Seiten gibt es (noch) keinen schnellen, automatisierten Weg zur unbeeinflussten Meinungsbildung. Gefragt sind vielmehr Umsicht, Eigeninitiative und nicht zuletzt ein gesunder Menschenverstand.

… und als Schreiber?

Na, was wohl? Angebote, ein paar knackige Produktrezensionen für schnelles Geld zu schreiben, werden Sie im Netz sehr schnell finden. Annehmen sollten Sie sie trotzdem nicht. Natürlich würden Sie solche Fakes nur unter Pseudonym veröffentlichen wollen, aber dazu braucht es im schlimmsten Fall auch Fake-Profile auf den großen Online-Portalen. Die Schwelle zum handfesten Betrug ist somit schnell überschritten. Und auch ohne die ganz große Moralkeule zu schwingen gilt: Als Autor sind Sie an anderer Stelle immer auch Kunde. Als Kunde fühlen Sie sich von „Opinion-Spam“ getäuscht und genervt. Als Autor wollen Sie ihn produzieren? Das passt einfach nicht zusammen.
Über die Autorin: Sylvia Phipps

Über die Autorin: Sylvia Phipps

International Database Manager, Designerin & Journalistin

Sylvia Phipps hat Film Studies (Contemporary Cinema – Certificate) in Oxford studiert, ist ausgebildete Multi-Media-Designerin und Social-Media-Managerin. Sie war über 15 Jahre lang als wissenschaftliche Online-Redakteurin in Großbritannien tätig, verfügt über das International Legal English Certificate (Distinction) der University of Cambridge und widmet sich heute neben ihrer Tätigkeit bei einer großen Berliner Kommunikationsagentur dem freiberuflichen Journalismus.

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